Mangel(-wirtschaft) im Kopf oder ein Ja, das Beste zu nehmen
„Sie nehmen hier die ganzen dicken Spargel und die anderen sollen den Dreck nehmen!“, fuhr mich laut und hart eine ältere Dame an, als ich 26 Spargelköpfe am Gemüsestand in meine Tüte zähle.
Und ich bin perplex, spüre ihren Ärger,
kann ihn zum Glück bei ihr lassen, muss ihn nicht übernehmen –
und gerate trotzdem etwas aus meiner Ruhe und guten Stimmung.
Das ist für mich für gewöhnlich ein Hinweis,
dass etwas in mir angeschaut und bewusst werden will.
Doch zunächst warte ich erst mal ab und bin gespannt, ob diese Dame auch Spargel kaufen will.
Ja, will sie. Sie bestellt bei der Verkäuferin ein Pfund Spargelköpfe.
Oh, dieses Verhalten ist mir schon so oft begegnet, seit ich Gewaltfreie Kommunikation betreibe –
bei anderen und mitunter auch bei mir selbst:
Wir trauen uns nicht zu nehmen, was wir sooo gern hätten,
beschränken uns
und machen denen, die für sich sorgen, dann Vorwürfe.
Und irgendetwas ist ja auch bei mir in leichte Unruhe gekommen, als ich diesen Satz hörte.
Was?
Zunächst taucht die Frage auf, ob ich mir wirklich die Spargelköpfe aussuchen darf,
die ich wirklich haben will.
Ist da nicht auch so ein: „Du nimmst dir hier die besten Spargel, du bist ganz schön egoistisch“ in mir gewesen?
Ja, der Satz wirkte im Untergrund.
Und nun die Frage:
Darf ich das? Darf ich egoistisch sein?
Die Frage, die über den Spargel hinaus geht heißt:
„Darf ich das Beste wählen, das, was ich wirklich will?“
Wieso eigentlich nicht?
Wieso soll ich Spargel kaufen, den ich nicht will,
wo es genug davon gibt und hier Selbstbedienung ist?
Oder kaufe ich das, was ich nicht will, aus Rücksicht auf… ja auf wen eigentlich?
… auf die Verkäuferin? – nein, der ist es egal
…auf andere Kunden? – die können auch wählen und nehmen, was sie wollen
…auf ältere Kunden, die sich nicht selbst bedienen wollen oder können? – die können ja sagen, was für Spargel sie wollen
Hm. Wieso will ich Rücksicht nehmen – ohne dass es ein Gegenüber gibt,
das diese Rücksicht gern hätte?
(Und wie oft passieren solche gut gemeinten sinnentleerten Handlungen?)
Es tauchen alte Kindergeschichten auf, wo ich gemaßregelt wurde –
und als Kind nicht verstanden habe, wofür.
Geblieben ist das schlechte Gefühl, wenn ich wirklich für mich sorge und jemand das bemängelt und die automatische Reaktion, mich zurückzunehmen und nicht für mich zu sorgen
und stattdessen die Wünsche anderer zu erfüllen oder in Ärger zu geraten.
Gut das zu sehen.
Für mich ist an dieser Stelle wichtig zu sehen,
dass ich das Beste für mich wählen darf, das was wirklich für mich stimmt,
jedenfalls so lange bis jemand anders auch seine Wünsche äußert.
Dann können wir nach der besten Lösung für alle suchen.
Das trifft ganz allgemein zu – mir diese innere Erlaubnis zu geben,
das Beste für mich zu wählen,
und auch konkret, was den Spargel betrifft.
Und was ist mit der älteren Dame?
Auch die handelt vermutlich aus einem alten Kindermuster.
Wenn ich ihr Alter schätze, war sie Kriegskind oder Kind in der Nachkriegszeit –
einer Zeit des Mangels, als es nicht genug gab für alle,
und wo man sich beschränken musste und vermutlich oft Hunger litt –
und sich auf keinen Fall das Essen nehmen durfte, das man so gern gehabt hätte.
Das würde jedenfalls den scharfen Ton erklären, indem sie gesprochen hat.
Jetzt kommt in mir Mitgefühl für die ältere Dame auf.
Schade eigentlich, dass diese ältere Dame die Gewaltfreie Kommunikation nicht kennt.
Vermutlich hat sie ihren Ärger noch länger in sich getragen
und vielleicht erzählt sie im Bekanntenkreis von der egoistischen Person,
die sich einfach die besten Spargelstücke nimmt.
Und ihre Zuhörer stimmen zu.
Nur was hilft es ihr, ihren Ärger breitzutragen?
Ich freue mich, das zu erkennen und anzunehmen,
denn bei einer nächsten ähnlichen Situation bin ich vielleicht nicht mehr perplex und sprachlos
sondern kann selbstbewusst dazu stehen,
dass das Beste für mich und für die andere Person die schönste Variante ist
und finde vielleicht Worte, die einer älteren Dame helfen, besser für sich zu sorgen.
Und wer weiß, sollten am Ende ein paar dünnere Spargel übrig bleiben,
vielleicht ist auch das jemanden recht, weil der Spargel vielleicht dann weniger kostet?
Übrigens:
Auf den Tellern zu Mittag sahen meine mitgenommenen Spargel ganz schön dünn aus
– und einer ohne Kopf war auch dabei.
So unwahr kann Beobachtung vermischt mit Bewertung sein.